Marie / Teil 1: Als ich meine depressive Tochter in die Kinder- und Jugendpsychiatrie brachte
- geschrieben von Anna Gandow
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Ich bin wirklich ein lebensfroher Mensch. Und ich hätte mir dies alles niemals träumen lassen. Nicht meine Tochter, nicht bei uns. Das hätte ich niemandem geglaubt. Marie, meine Tochter, die in Wirklichkeit anders heisst, war immer ein fröhliches Mädchen. Sie gehörte immer zu den beliebten Kindern in der Klasse, hatte viele Freunde, kam gut mit, machte Sport und war überhaupt, ja, „pflegeleicht“.
In den letzten Jahren ging sie immer mehr ihren eigenen Weg, wollte mich nicht mehr dabei haben und ich habe wohl sogar Elternabende verpasst, weil die Einladungen mich niemals erreicht hatten. Ich dachte, sie entwickelt sich einfach altersgemäß. Über Abnabelung und „das eigene Ding machen“ kann man ja in jedem Erziehungsratgeber lesen. Das ich kaum mehr etwas von ihr mitbekam und sie auch niemanden mehr mit nach Hause brachte, schob ich genauso auf die Pubertät, wie die morgendlichen Schön-mach-Stunden im Bad und die schon fast heftigen Abgrenzungsattacken gegenüber ihrer älteren Schwester. Irgendwie kam niemand mehr an sie ran.
Und dann kam dieser eine Abend an dem sie ausrastete und der unser Leben wohl für immer verändern würde. Ich hatte Marie gebeten den Müll rauszubringen. Eine Lappalie, fand ich. Ich arbeitete viel und die Mädels sollten ein Mindestmaß an Mithilfe im Haushalt leisten. Doch das klappte immer seltener und freiwillig schon gar nicht. Marie rastete aus. Sie schrie mich an und es brach die gesamte Fassade zusammen. Ich erkannte mein Kind nicht mehr und war wie versteinert. „Was ich mir überhaupt denken würde! Sie müsste immer und ihre Schwester nie und überhaupt würde es hier niemanden interessieren, wie es ihr ginge und alles würde sich nur um ihre Schwester drehen. Sie wäre mir ja schon immer völlig egal gewesen und es würde ihr jetzt reichen, sie wollte nicht mehr hier sein ...“ Marie schrie sich in Rage und es wurde immer schlimmer und zum Schluß brach es aus ihr raus „und weisst du überhaupt, dass ich mich ritze? Schon lange, aber das interessiert dich auch nicht, ja, schau es dir an!“ und sie schob ihre Hose hoch und ich sah die mit Schnitten übersähten Oberschenkel. Ich konnte nur noch stammeln, mir war schlecht, ich war fassungslos und völlig überfordert. Marie knallte die Tür hinter sich zu und schloß sich in ihrem Zimmer ein.
Ich habe einige Zeit gebraucht um die Fassung wieder zu gewinnen und um wieder klar zu denken. Was sollte ich nur tun? Ich musste versuchen in Ruhe mit Marie zu sprechen. Sie brauchte Hilfe, ich brauchte Hilfe, das war mir klar. Das sind die Momente, in denen es sicher einfacher ist, wenn man mit dem Vater der Kinder zusammenlebt, wenn man als Eltern zu zweit ist - zumindest solange man der gleichen Meinung ist und sich stützt. Ich habe in den Wochen die folgten in Familien, die ich kennenlernte, auch anderes erlebt. Und so gesehen, ist es vielleicht doch einfacher alleine zu sein und zu entscheiden. Auch jetzt noch, viele Monate nach diesem Abend, fällt es mir schwer die Panik zu unterdrücken, die sich damals und auch jetzt wenn ich dies aufschreibe, in mir breit macht. Hatte ich Marie vernachlässigt? Was hatte ich falsch gemacht, welche Hinweise übersehen? Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte solche Angst um sie. Warum tut sie sich das an?
Die nächsten Tage waren furchtbar. Ich versuchte mit Marie zu reden, versuchte zu verstehen. Doch sie sagte nichts und guckte mich nur vorwurfsvoll an. Wie konnte sich mein Kind aufscheniden? Immer wieder? Womit und wann tat sie es? Was sollte ich tun? Ich sah jetzt auf einmal den Papierkorb unter ihrem Tisch mit lauter blutigen Taschentüchern. Ich suchte das Bad ab nach Blutspuren - und fand regelmäßig neue. Ich rief die Klassenlehrerin an, erzählte ihr alles und bekam zu hören, das „Ritzen gerade IN sei“ und sie an der Schule noch ein paar Fälle hätten. Ich sprach mit einer Kindertherapeutin, die ich von früher kannte. Von ihr bekam ich die Adresse der hiesigen Kinder- und Jugendpsychiatrie und hörte, dass es dort eine ambulante Sprechstunde gäbe und das ich auf jeden Fall dort hin gehen sollte - mit Marie. Zwei Tage später habe ich sie dann dazu gezwungen. Ich weiß heute kaum noch, wie das geklappt hat, wie ich sie ins Auto bekam, sie war auf jeden Fall nicht kooperativ. Sie hielt nichts davon, dass ich hier ein Problem machen wollte. „Lass mich nur in Ruhe, ich will ausziehen, wenn ich Euch nicht sehen muss, dann geht es mir gut!“ so ihre Vorstellung. Ich sagte ihr, dass es gut wäre mit jemanden zu reden und das wir Hilfe bräuchten. Stunden später saßen wir der Therapeutin gegenüber. Das Gespräch mit mir war kurz, Marie stumm wie ein Fisch und dann wurde ich rausgeschickt. Ich betete leise vor mich hin, dass sie doch bitte der Therapeutin etwas sagen möge. Dieses Schweigen war noch unerträglicher als das Schreien. Quälend lange Minuten starrte ich den unfreundlichen Flur hinauf und hinunter. Jetzt sitze ich also hier in der Psychiatrie schoß es mir durch den Kopf - eine wahrhaft irreale Situation. Später durfte ich wieder zur Therapeutin, Marie ging ohne mich anzusehen aus dem Zimmer. Die Fachfrau erklärte mir, dass Marie eine Depression hat. Mittelschwer. Und suizidale Gedanken. Sie würde ihr dringend empfehlen Medikamente zu nehmen und ob ich dazu einwillige und wir sollten überlegen, ob Marie nicht besser auf Station käme. Wann dort ein Platz frei würde, müsste sie erst noch in Erfahrung bringen. Medikamente?? Psychopharmaca? Meine Marie? Suizidale Gedanken? Wie konnte das sein? Hier musste es sich um eine Verwechslung handeln. Eben noch war mein Mädel quitschvergnügt über die Bühne des Lebens gesprungen, hatte die Hauptrolle im Theaterstück mit Bravour gemeistert und war als Klassensprecherin zu einem Seminar gegangen und jetzt das???? Stop, Stop - schrie alles in mir, das geht mir zu schnell, ich komme nicht mit!
Marie wurde wieder rein geholt. Ich musste vernünftig sein. Die Therapeutin erklärte uns noch einmal alles und schickte uns zu einem Arzt, der die offizielle Medikamentenaufklärung übernehmen sollte. „Kann ich jetzt gehen?“ das war Marie in dem gewohnt genervet-gelangweilten Ton, und das brachte mich ein wenig auf den Boden der Tatsachen zurück. „Nein,“ sagte ich, „du hast gehört, was die Therapeutin gesagt hat, wir gucken uns jetzt noch die offene Jugendstation an.“ Die Besichtigung war ... ja, ernüchternd, erschreckend, ich weiß nicht was. Ich war noch nie in einer psychiatrischen Einrichtung, ich hatte keine Ahnung, was uns dort erwarten würde und überhaupt, es ging nicht um mich sondern um meine 15-jährige Tochter, meine Marie! Könnte ich sie hier lassen? Könnte ich das verantworten? Würde sie mich nicht für immer hassen? Wie würde sich das für sie anfühlen, hier abgegeben zu werden? Und überhaupt, würde sie mitmachen? Dies war die „offene“ Station. Wer hier ist, der muss freiwillig hin gehen. Heute wäre eh kein Platz frei, vielleicht nächste Woche, erklärte mir Fabian, der Erzieher der Station. Netter Typ. Solche Leute hätte ich mir auch in den Grundschulen und Schulen gewünscht. Cool und gut. Ok, wir kriegen also Bescheid, nächsten Dienstag, das sind noch 6 Nächte.
Eisiges Schweigen im Auto. Kaum sind wir zuhause, ist die Zimmertür zu. Später verschwindet Marie. Sie kommt an diesem Abend nicht wieder. Meine Gedanke fahren Karussel. Suizidale Gedanken! Wird sie sich was antun? Ich fange an im Internet zu lesen. Versuche mich zu beruhigen. Ich nehme an, sie ist bei ihrem Freund, ein komischer Typ und ich weiß nicht wo er wohnt, habe keinen Nachnamen, keine Telefonnummer. Bislang schien das nichts Ernsthaftes und ich wollte mich nicht als Glucke aufführen. Ich rufe Maries Freundin an. Sie weiß über alles Bescheid und ich kriege eine Stunde später die Nachricht, dass Marie wirklich bei Tom ist und es ihr wohl soweit gut geht. Seufz. Ich versuche zu schlafen.
Die nächsten Tage ziehen sich. Wenn Marie da ist, ist sie eiskalt und abweisend. Ich solle sie in Ruhe lassen. Und die Medikamente will sie auch nicht nehmen, verkündet sie. Ich hoffe immer mehr auf die Station und warte den Dienstag ab.
(Die hier schreibende Mutter ist der Redaktion bekannt)
Anna Gandow
Anna Gandow lebt mit ihrer Patchworkfamilie am Bodensee. Ihre Jungs aus erster Ehe stecken mitten in der Pubertaet und lassen nix aus - so wie es ihr manchmal scheint. Ihre kleine Tochter hat noch ein paar Jahre Zeit, bevor es los geht. Vermutlich wird es mit einem Mädchen ganz anders – das hört Anna zumindest im Moment, wenn sie sich mit ihren Freundinnen unterhält. Für pubertaet.de betreut sie die Rubrik "Trost & Mut" und füllt diese mit allerlei Briefen, Kolumnen und Links. "Es geht vorbei" ist ihr Mantra, "Du bist nicht allein" ihre Botschaft. Und Unfug hatten ihre Kinder schon immer im (oder auf) dem Kopf …