Pädagogen

Soft Skills in Zeiten der Coronakrise – Warum Empathie von Pädagogen gerade heute so wichtig ist

Lehrerin übt Empathie-Soft-Skills vor ihren Schülern in Zeiten der Coronakrise ©14995841@pixabay.com Lehrerin übt Empathie-Soft-Skills vor ihren Schülern in Zeiten der Coronakrise

Zur Zeit dreht sich in der Schule alles um Corona und um die dadurch bedingten Umstände: Maskenpflicht, Hygienekonzept, Abstandsregelungen, Homeschooling/Distanzunterricht, Digitalisierung, Bereitstellung von genügend Tabletts, funktionierendes Internet usw. Es geht darum, die Schulen irgendwie am Laufen zu halten und eine Schulschließung möglichst zu vermeiden...

Pädagogik muss Bindungsbildung sein – auch in Coronazeiten

Ich habe großen Respekt vor allen Schülern und Lehrern*, die unter diesen schwierigen, sich täglich oder wöchentlich verändernden Bedingungen lernen und lehren müssen. Es ist eine schwere Zeit... Was aber in dieser ganzen Aufregung vollkommen auf der Strecke bleibt, ist die eigentliche Pädagogik, die auch in Corona-Zeiten eine Bindungsbildung bleiben muss. Die Pädagogik sollte stets ein doppeltes Ziel verfolgen: Den Schülern einerseits Fachwissen und Kompetenzen zu vermitteln (Bildungsziel I) und sie zugleich bei ihrem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, Charakter- und Herzensbildung sowie in der Werterziehung zu begleiten – auf ihrem Weg durch ihre Pubertät und hin zum Erwachsenwerden (Bildungsziel II). Darin sehe ich unsere eigentliche pädagogische Aufgabe als Lehrer, auch wenn diese nicht so leicht greifbar und messbar ist wie etwa die Versorgung jedes Schülers mit einem neuen Tablett.

Digitalisierung versus Pädagogik?

Denn unsere Schüler sind eben keine kalten, digitalisierten, nur hirnig ausgerichteten Lernroboter, sondern Jugendliche in ihrer Entwicklung: in ihrer bisweilen mühsamen und langwierigen Persönlichkeitsentwicklung. Und das in Zeiten einer als immer unsicherer empfundenen globalisierten Welt, die von Terrorangst, Handelskriegen, einem sich völlig egozentrisch gebärdenden Donald Trump, von der berechtigten Angst ums Weltklima und eben vom Corona-Virus beherrscht wird.

Natürlich wird von uns Lehrern erwartet, dass wir uns der digitalen Entwicklung an den Schulen stellen und die uns anvertrauten Schüler Wissens-fit und Technik-kompetent für die Zukunft in einer sich immer schneller drehenden Welt machen - auch in der Coronakrise, in der die Digitalisierung durch die Notwendigkeit des Homeschooling gerade einen kräftigen Schub nach vorne erfährt. Als Pädagoge mit fast 40-jähriger Berufserfahrung möchte ich jedoch einen leidenschaftlichen Appell an meine Lehrer-Kollegen, sowie an alle Bildungspolitiker und „Lehrplan-Macher“ richten: „Vergesst jetzt die Pädagogik nicht!“

Weiche Faktoren in der Pädagogik bleiben gefragt

Unter „weichen“ Faktoren in der Pädagogik meine ich vor allem „Soft Skills“ wie Mitgefühl, Liebe und Empathie unseren Schülern gegenüber. Diese Eigenschaften sind mehr gefragt denn je, auch wenn sie schlecht messbar und schon gar nicht operationalisierbar sind. Gerade in uns Lehrern suchen die Schüler einen Menschen,

  • der ihnen neben der Wissensvermittlung Orientierung gibt – auf ihrem Weg durch die Pubertät und hin zum Erwachsensein;
  • der ihnen notwendige Grenzen setzt und Leitplanken bietet, wenn sie über das Ziel hinausschießen;
  • der Geduld und Mitgefühl zeigt, wenn sie Probleme haben – etwa weil sich die Eltern gerade trennen, eine Beziehung zerbrochen ist, Opa oder Oma gestorben sind oder weil sich ein schulischer Misserfolg eingestellt hat;
  • der sie – einem Magier gleich – immer wieder durch seine Fächer, Themen und Projekte begeistern, aufbauen und vor allem emotional erreichen kann;
  • der eben Empathie-fähig ist, einen guten Draht zu ihnen hat und der ihnen in unserer schnelllebigen Zeit ein Anker ist, an dem sie sich immer festhalten können;
  • der auch im digitalen Zeitalter die Einstellung beherzigt: „Erziehung durch Beziehung“.

Kurzum: Unsere Schüler brauchen im Lehrer vor allem einen Menschen, der ihnen im Klassenzimmer gegenüber steht, der sie liebt, sie als Individuen wahrnimmt, ihnen zugewandt ist und ihnen Mut macht. Wie sehr diese Überlegungen zutreffen, soll folgendes Beispiel aus dem Schulalltag eines Physik-Kollegen in einem Nürnberger Gymnasium zeigen:

Der Fall Maria (Name geändert)

„Ich unterrichte Physik in einer 8. Klasse. Zu Beginn der Stunde Anfang Dezember bat ich eine Schülerin (Maria) zur Tafel. Leider konnte die 13-jährige Maria, die an sich eine leistungsstarke und ehrgeizige Schülerin ist, nur einen Teil meiner Fragen beantworten. Sie wirkte irgendwie nervös und geistesabwesend. Ich notierte die Note „ausreichend“ in meine Schülerliste. Als Maria nach der Stunde nach ihrer Leistung fragte, die ich nur mit „Vier“ bewerten konnte, fing sie heftig an zu weinen. Ja, es schüttelte sie so richtig durch. Betroffen fragte ich sie, was mit ihr denn los sei.

Da brach es aus ihr heraus: Am Wochenende hatte sie nachts wach in ihrem Bett gelegen. Vom benachbarten Schlafzimmer ihrer Eltern konnte sie deren Auseinandersetzung hören. Sie hatten beschlossen, sich zu trennen. Das war ein heftiger Schock für Maria. Da sie sich irgendwie schuldig an den Partnerproblemen ihrer Eltern fühlte, hatte sie es bisher nicht gewagt, mit ihnen darüber zu sprechen. Daher war sie mit ihrer großen seelischen Not und ihren Verlustängsten allein. Sie fühlte sich isoliert.

Als ich das hörte, war ich insgeheim froh, dass nun alles rauskam, was Maria offensichtlich so sehr belastete. Gleichzeitig berührte mich das Vertrauen von Maria in mich als einen ihrer Lehrer sehr. Da ich eine Freistunde hatte, hörte ich ihr einfach zu und sagte ihr, dass sie immer zu mir kommen und mit mir über alles reden könne, so wie jetzt gerade. Ich wusste, dass ich natürlich das Problem von Maria mit ihren Eltern nicht lösen konnte, aber ich konnte feststellen, dass es ihr danach ein bisschen leichter ums Herz war, weil sie ihre Ängste rausgelassen und zumindest einer erwachsenen Person anvertraut hatte. Der Lehrerin der nachfolgenden Stunde gab ich in der Pause Bescheid, warum Maria um fast eine Viertelstunde zu spät in ihren Unterricht gekommen war.

Eine Woche später war Elternsprechabend. Wie durch „Zufall“ kam auch die Mutter von Maria. Da wir nur maximal zehn Minuten Zeit hatten, konfrontierte ich die Mutter sofort mit der Not ihrer Tochter. Die Mutter fiel als allen Wolken, weil sie davon nichts wusste und begann nun ihrerseits, heftig zu weinen. Ich bekam den Eindruck, dass nun einerseits ihr Partnerschaftsproblem zumindest bei mir als dem Physik-Lehrer von Maria öffentlich geworden war; das war ihr peinlich. Gleichzeitig war es wie ein Stich für sie, weil sie nun die große Not und die Ängste ihrer Tochter spüren konnte. Sie bedankte sich sehr für dieses Gespräch und für meine Information, bat mich aber gleichzeitig, Maria nichts von dieser Unterredung zu erzählen. Daran hielt ich mich natürlich.

Ende Januar stand Maria nach einer Physik-Stunde wieder vor mir – diesmal erleichtert, ja sogar ein bisschen strahlend. Sie teilte mir mit, dass ihre Mutter nun über alles mit ihr gesprochen hatte, auch über meine Unterredung mit ihr am Elternabend. Mit ihrem Vater hatte es ebenfalls eine offene Aussprache gegeben. Diese führte letztendlich dazu, dass die Eltern nun auf jeden Fall zusammen bleiben wollten. Die verständliche Not ihrer Tochter hatte sie anscheinend sehr erschüttert und ihnen bewusst gemacht, wie wichtig sie für ihr Kind seien, die gerade mitten in der Pubertät steckt und beide Eltern braucht.

Nun bedankte ich mich ausdrücklich bei Maria für ihre Offenheit, ihr Vertrauen, ihre Kraft, das alles durchzustehen und für diese Rückmeldung, die für mich wie der vorläufige Abschluss eines intensiven psychologischen und pädagogischen Prozesses war. Bleibt noch zu erwähnen, dass sie im weiteren Verlauf des Schuljahres nicht mehr zu mir kam. Maria wusste aber, dass sie jederzeit wieder mit mir reden konnte. Sie wirkte nun auf mich viel gelassener.“

Walkaway – Initiation Erwachsen werden für Schülerinnen und Schüler www.initiation-erwachsenwerden.de/walkaway.html

Bücher des Autors:

„Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“. ISBN: 978-3-95645-659-6
eBook: ISBN: 978-3-752956-93-1 


 

„Heilung – Plädoyer für eine integrative Medizin“ (Softcover) ISBN: 978-3-752953-99-2
eBook: ISBN: 978-3-752952-75-9


 

„Heilung – Initiation ins Göttliche“ (Softcover) ISBN: 978-3-95645-313-7
eBook: ISBN: 978-3-752956-91-7


 

Nähere Infos und Buch-Bezug:
www.initiation-erwachsenwerden.de
www.alternative-heilungswege.de

Reflexion

Ich kann vor diesem Kollegen nur meinen Hut ziehen. Scheinbar hat er im Laufe seines Berufes eine tiefe Empathiefähigkeit entwickelt. Gleichzeit redete er nicht um den Brei herum, als „das Schicksal“ ihm die Mutter von Maria zum Elternabend schickte. Er scheute sich auch nicht, die Mutter sofort mit der vollen Ladung des Problems zu konfrontieren, wissend, dass diese Situation ein „Kairos“ war, also ein besonderer Augenblick, der so vielleicht nie mehr wiederkommen würde. Dass es der Mutter peinlich war, weil er zu ihrer Überraschung im vollen Bilde von ihren Partnerproblemen zu Hause war, musste er in Kauf nehmen. Der Lehrer ergriff also eindeutig Partei für Maria und wusste, dass er nun handeln und die Mutter direkt und schonungslos mit Marias Not ins Bild setzen  musste. Das brachte wohl den Umschwung für die Lage von Maria und indirekt womöglich sogar für die Beziehung ihrer Eltern. Die Problematik Marias war nun auf dem Tisch ihrer Eltern gelandet.

Mit etwas Abstand betrachtet, musste mein Kollege sehr flexibel, einfühlsam und zupackend in kurzer Zeit verschiedene Rollen einnehmen:

  • Zunächst war er Fachlehrer, der Maria und ihre Klasse in Physik unterrichtete.
  • Als Maria in Tränen ausbrach, war er ein einfühlsamer Mensch und Seelsorger, der aber zugleich den nötigen Abstand zu dem Mädchen hielt, das sich ihm gerade so unmittelbar anvertraute.
  • Am Elternabend wurde er für kurze Zeit fast unvermeidlich in die Position eines Psychologen versetzt.
  • Insgesamt nahm er seine „Königsaufgabe“ als Lehrer wahr, der neben der Vermittlung von Fachwissen und Kompetenzen zugleich das Wohlergehen seiner Schüler im Blick hatte und mit hoher Sensibilität und zugleich Klarheit handelte, als er das Problem von Maria bei ihrer Mutter anging. Chapeau!

Fazit

Mir ist klar, dass solch eine Situation wie die von Maria nicht so häufig vorkommt. Dennoch ist die Schule ein offenes System, in das auch immer wieder Probleme der Schüler von zu Hause hereingetragen werden. Es bedarf einer permanenten Präsenz im Schulalltag, um auch mit solchen Situationen wie der des Kollegen adäquat umgehen zu können. Grundkenntnisse in Psychologie können auch für uns Lehrkräfte nicht schaden, gerade auch in Corona-Zeiten nicht...

* Natürlich sind mit „Schüler“ stets Schülerinnen und Schüler, mit „Lehrern“ Lehrerinnen und Lehrer und mit „Kollegen“ Kolleginnen und Kollegen gemeint. Ich wollte aber den Artikel nicht unnötig aufblähen.

Letzte Änderung amMittwoch, 07 April 2021 13:37
Peter Maier

Peter Maier wurde 1954 in einer kleinen Gemeinde in Ostbayern geboren. Er besuchte das Gymnasium, absolvierte die Bundeswehr als Sanitäter und studierte anschließend das Lehramt für Gymnasien.

Vor Beginn des Referendariats unterrichtete er 1981 für ein halbes Jahr an einer Secondary School in Kenia. Seit Herbst 1981 ist er als Lehrer an Gymnasien in Bayern tätig. Er hat einen erwachsenen Sohn.

Neben dem Staatsexamen hat der Autor mehrere Zusatzausbildungen abgeschlossen:

  • - zum Gruppenleiter in Themenzentrierter Interaktion (TZI) nach Ruth Cohn
  • - zum Supervisor an einem Institut, das nach dem Standard der DGSV ausbildet
  • - zum Initiations-Mentor in der Tradition der amerikanischen „School of lost Borders“.

Langjährige Fortbildungen in integrativer Pädagogik, Gruppendynamik, initiatischer Therapie und christlicher Kontemplation. Selbsterfahrung mit Visionssuchen, Familienaufstellungen und in der Männer- und Ritualarbeit. 

Von 2008-2015 führte der Autor mit Jugendlichen alljährlich das naturpädagogische Initiations-Ritual des WalkAway durch. Als Initiations-Mentor begleitet er Jugendliche bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung und auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden.

Durch seine Bücher über Initiation und Pädagogik, durch Vorträge sowie durch eine Reihe von Artikeln in pädagogischen Fachmagazinen und Zeitschriften gibt der Autor die Essenz seiner langjährigen Erfahrungen als Lehrer und Initiations-Mentor weiter. In Zeiten einer beständigen Reformtätigkeit im Schul- und Bildungsbereich plädiert er leidenschaftlich für eine integrative Pädagogik mit Herz und Verstand und für eine menschliche Schule.

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